SELBSTBESTIMMUNG UND IHRE GRENZEN
“MUSST DU DICH IMMER EINMISCHEN”
EIN SEMINAR MIT ERIK BOSCH
Wie es dazu kam
Kurz bevor unser Sohn in die Pubertät kam, hatten wir endlich allerlei gesundheitliche Probleme entschlüsselt und behoben. Plötzlich wuchs er und aus einem 10-jährigen Jungen, der wie 5 aussah und wie 2 behandelt wurde, wurde ein 12-jähriger Junge, der wie 10 aussah und wie 8 behandelt wurde. Es gab Probleme über Probleme und ich war völlig verzweifelt. Keine Down-Syndrom Fachliteratur half mir weiter, keine Seminare auf Fachtagungen lieferten Ideen. Es fehlte der zündende „Schlüssel“. In der Schule spitzten sich die Probleme zu, auf Anraten eines Psychologen wechselten wir die Schule. Auch dort waren die Lehrer ziemlich ratlos und verschiedenste pädagogische Ansätze wurden ausprobiert.
Schließlich besuchte ich in der Lebenshilfe Marburg ein Seminar mit Erik Bosch und Ellen Suykerbuyk. Dort entdeckte ich einen „Schlüssel“, den ich ausprobierte und plötzlich fand ich einen neuen Zugang zu meinem Sohn. Es entstand in mir die Idee, Erik Bosch einmal in unsere Selbsthilfegruppe einzuladen, um anderen Eltern auch solche Erkenntnisse zu ermöglichen. Leider hatte damals Erik Bosch ein akutes Augenproblem und schraubte deshalb seinen „Preis“ sehr hoch, so dass wir von der Einladung Abstand nahmen.
In der Schule gelang es mir leider nicht, meine neu erworbenen Kenntnisse an Lehrer und Schulbegleiter weiter zu vermitteln, sodass schulischerseits keine echte Problemlösung erfolgte.
Zwei Jahre später wurde ich Vorsitzende des Fördervereins der Hammerwaldschule und als die Lehrer in der Schule immer wieder über Probleme auch mit vielen anderen Schülern klagten, reifte in mir die Idee, eine Kooperation des Fördervereins mit der Familiengruppe Down-Syndrom einzugehen, um eine Finanzierung der ursprünglich geplanten Veranstaltung hin zu bekommen. Allerdings war für mich Grundvoraussetzung, dass zusätzlich zu den Eltern beider Vereine Lehrer und Schulbegleiter an der Veranstaltung teilnehmen sollten. Es gelang mit Hilfe der Förderung für Selbsthilfegruppen durch die AOK, einer Förderung durch das Down-Syndrom Netzwerk, einer Förderung durch den Förderverein Hammerwaldschule und eine passable Teilnahmegebühr die Veranstaltung zustande zu bringen. Die Augensituation von Erik Bosch hatte sich inzwischen etwas stabilisiert und er war bereit, für das vereinbarte Honorar ein „Stresswochenende“ auf sich zu nehmen.
Das Seminar
Das Augenmerk des Seminars lag auf der emotionalen Entwicklung von geistig behinderten Menschen. Es wurde deutlich, dass ein geistig behinderter Mensch sehr viel verstehen kann, kognitiv durchaus in der Lage, sein Leben selbständig zu meistern. Er kann gut räumlich orientiert sein, ausreichend mit Geld umgehen, alle notwendigen Fähigkeiten zum selbständigen Wohnen besitzen und trotzdem emotional ein Kleinkind sein. Das macht ihn in einer „normalen“ Umwelt dann doch auffällig und schwierig und erschwert Inklusion in einer Umwelt, der solche Auffälligkeiten fremd sind.
Emotional ein Baby
Der Mutter eines Babys wurde während des Seminars deutlich, dass ihr Baby von ½ Jahr seine Triebe nicht aufschieben kann. Wenn es Hunger hat, kann es nicht warten, wenn es Bauchweh hat, sucht es Hilfe. Das Baby braucht Sicherheit. Es klebt an dir fest. Es schreit, sobald es dich nicht mehr sieht. Das Baby steckt in der oralen Phase. Es steckt alles in den Mund. Der Mund ist sein wichtigstes Wahrnehmungsorgan. Es ist gierig und schrankenlos. Viele unserer Jugendlichen mit Down-Syndrom verhalten sich auch so. Wenn mein Sohn in eine fremde Umgebung kommt, hängt er an mir fest, wie eine Klette. Bei einer Führung durch ein Museum sucht er die Hand des Leiters. Das gibt Sicherheit. Er versucht sich Versprechen „deal“ zu erzwingen. Was dem „Fremden“ unangenehm und mir peinlich ist, ist aber bei einer emotionalen Entwicklung von 0-1 Jahr normal. Jetzt weiß ich, dass es wichtig ist, ihm Sicherheit zu geben, damit er sich aus dieser Sicherheit heraus weiter entwickeln kann. Jetzt bin ich wachsam hierauf.
Emotional zwischen 1 und 3
Die Mutter eines Jugendlichen mit Down-Syndrom entdeckte, dass ihr Sohn, über den sich die Lehrer beschwerten, er würde nur an sich denken und ständig die Grenzen austesten und bei dem sie beobachtete, dass er bei allem, was er tat, von sich auf andere schloss, emotional in der analen Phase steckt, also ein emotionales Entwicklungsalter von 1-3 Jahre hat. Er hat noch große Mühe, seine Treibe aufzuschieben. Aber er ist auf der Suche nach einer Lösung. Es ist also nicht richtig, dem jungen Mann Angst zu machen oder unter Druck zu setzen, sondern es geht darum, seine Persönlichkeit zu achten und sein Streben nach einer Lösung zu würdigen und zu unterstützen.
Emotional zwischen 3 und 5
Die Freundin einer erwachsenen Frau mit Down-Syndrom erkannte, dass ihre Freundin sich emotional in der ödipalen Phase befindet und ein ausgeprägtes Gewissen entwickelt hat. Dieses ist so ausgeprägt, dass es sie so sehr hemmt, dass sie ihr Leben nur noch in Zeitlupe gestaltet. Sie stellt ihre eigenen Bedürfnisse zurück und ist so angepasst an ihre Werkstattumgebung, dass ihre Familie den Eindruck einer Retardierung gewinnt.
Erik Bosch machte immer wieder deutlich, dass es wichtig ist, die Persönlichkeit des behinderten Menschen in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. Zu dieser Gesamtheit gehört die körperliche Entwicklung genauso wie die geistige und soziale Entwicklung, die persönliche Lebensgeschichte und psychische/psychiatrische Probleme. Das alles hat Einfluss auf die emotionale Entwicklung.
Betreuungsstil
Abschließend betonte Erik Bosch, dass alles steht und fällt mit dem richtigen Betreuungsstil. Es geht um das Helfen, es anders zu tun. Lernziele können durch Visualisierung, geeignete Medien und vieles mehr erkennbar gemacht werden. Der Mensch muss ernst genommen werden, seine Interessen aufgegriffen werden. Erfolgserlebnisse sollten geschaffen werden, selbst beim Spiel mit den Grenzen. Es ist eine anerkennenswerte Leistung, eine Grenze erkannt und beachtet zu haben. Solche Lernziele können gemeinsam mit dem zu Betreuenden vereinbart werden. Es ist wichtig, dem Betreuten Vertrauen in seine Fähigkeit, das Lernziel zu erreichen, zu vermitteln. Eine positive Bestätigung kann zum Beispiel eine grüne Karte sein. Ein Misserfolg kann durch ein „mir ist gestern auch was schief gegangen“ abgeschwächt werden und Vertrauen in ein „morgen wird es besser klappen“ gestärkt werden.
Ein deutliches visualisiertes Tagesprogramm kann Sicherheit schaffen. Die Meidung von leeren Momenten (denn sie führen zu Unsicherheit), das Vermitteln von Ideen für Langeweile-Beschäftigungen, sind einige durch Erik Bosch aufgeführte Möglichkeiten.
Die Beurteilung
Am Ende füllten alle Anwesenden einen Fragebogen aus. Zu meiner Freude konnten alle Eltern (unabhängig vom Alter oder der Behinderung ihrer Kinder) und alle Schulbegleiter angeben, dass sie die Veranstaltung gut fanden und neue Ideen für den Umgang mit ihren Kindern gewonnen haben. In mehreren Fällen gelang es sogar, Eltern und Schulbegleiter bzw. Eltern, Schulbegleiter und Lehrer in Bezug auf ein spezielles Kind einer Problemlösung näher zu bringen. Die Lehrer gaben an, dass es eine „Auffrischung“ von im Studium gelernten Inhalten gewesen sei. Einige Lehrer hatten neue Ideen gewonnen, einige nicht. Es bleibt zu hoffen, dass die Lehrer gemerkt haben, dass es nicht nur darum geht, bestimmtes Wissen über einen geeigneten Umgang mit Kindern mit geistiger Behinderung erworben zu haben. Es sollte auch darum gehen, dieses Wissen anzuwenden und zu erkennen, dass viele „Probleme“, die Lehrer (aber auch Betreuer und Eltern) mit bestimmten Kindern haben, nur durch eine Fehleinschätzung bzw. Missachtung ihrer emotionalen Reife und/bzw. Unkenntnis diverser körperlicher Probleme und/bzw. Missachtung von die Psyche verletzenden vergangenen Ereignissen entstehen. Ein durch diese Missachtung zustande kommender ungeeigneter Umgang mit den Behinderten führt notgedrungen zu sich wiederholendem Problemverhalten.
Fazit
Im Nachhinein denke ich, wir Organisatoren hätten zum Abschluss eine Diskussionsrunde mit der Frage: „Was hat uns das Seminar gebracht“ machen sollen. Es hätte heraus kommen können, dass es für die Kinder wichtig wäre, wenn bei jedem Klassenlehrerwechsel verpflichtend ein Treffen von Eltern, Klassenlehrer und Schulbegleiter (falls das Kind einen solchen hat) stattfinden sollte (hierüber sollten die Eltern bei der Einschulung ihres Kindes in die Schule informiert werden – auch die Eltern von Quereinsteigern) und gemeinsam ein hermeneutischer Kreis ausgefüllt werden. Dabei würden die Eltern lernen, wo ihr Kind in der emotionalen Entwicklung steht und was das für ihren Umgang mit dem Kind bedeutet, die Lehrer könnten den Eltern einige pädagogische Anregungen geben und die Eltern könnten die Lehrer über die körperlichen Besonderheiten ihrer Kinder und die damit verbundenen Probleme, eventuell in der Vergangenheit die Psyche verletzende Ereignisse usw. aufklären. Sich auf eine Übergabe von Lehrer zu Lehrer zu verlassen, erwies sich in der Vergangenheit als unbefriedigend. Das hat die neue Schulinspektion der Hammerwaldschule genauso ergeben, wie die Schulinspektionen vergangener Jahre.
Informationen über Erik Bosch und Ellen Suykerbuyk: